Moin.
Ich bin sonst eigentlich nicht der Typ, der politische Ereignisse dazu nutzt, seinen verfallsdatumsmäßig längst abgelaufenen Senf ins Internet zu kippen. Wirklich nicht. Und wenn, dann in Form eines mehr oder minder hämischen Kommentares auf Twitter.
Was aber unlängst in #Chemnitz zutage kam, und vor allem, welche Reaktionen das auslöst, zwingt mich förmlich dazu, mal ein bisschen ausführlicher zu werden.
Lassen wir die Ereignisse nochmal Revue passieren:
Am 26. August 2018 eskalierte eine zunächst verbale Auseinandersetzung zwischen mindestens 3 Personen, in deren Verlauf eine Person mit Messerstichen derart verletzt wurde, dass sie wenig später ihren Verletzungen erlag und verstarb. Sie merken schon, ich lasse bewusst noch Nationalitäten außen vor und beschränke mich auf die Sache.
Betrachten wir den Vorgang, so stellen wir nach etwas Recherche fest: so oder so ähnlich spielten sich in jüngster Vergangenheit viele Fälle ab, bei denen Stichwaffen eingesetzt wurden. Unter https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/kriminalitaet-deutschland-101.html lassen sich hierzu interessante Zahlen nachlesen, auch was die Herkunft der jeweiligen Opfer und Täter angeht.
Denn genau das spielt bei dem Fall in Chemnitz scheinbar eine ganz besonders wichtige Rolle: das Opfer ist ein Deutscher (es kursieren auch Hinweise, es handele sich um einen Deutschen mit kubanischen bzw. russischen Wurzeln), die mutmaßlichen Täter sind ein Syrer und ein Iraker.
Diesen Umstand – und nicht etwa die Tat an sich, die ansonsten eher als gegeben hingenommen zu werden scheint – diente verschiedenen politisch rechts anzusiedelnden Gruppierungen dazu, nur einen Tag bzw. ein paar Stunden später einen Mob mobil zu machen, der unter dem offiziellen Vorwand eines „Trauermarsches zum Gedenken an das Opfer“ wütend und gewaltbereit durch Chemnitz zog. Ich persönlich kann nicht nachvollziehen, inwiefern es als Trauerbekundung zu werten sein kann, mit Parolen wie „Lügenpresse!“, „Wir sind das Volk!“, „Ausländer raus!“ brüllend durch eine Stadt zu marschieren, dabei vereinzelt Menschen anzugreifen (ich meine, von mindestens 30 solcher Attacken gelesen zu haben), die fremd bzw. nicht deutsch genug aussehen und andere Menschen einzuschüchtern bzw. zu provozieren. Mir ist bislang kein einziger Fall bekannt, in dem sowas zum Beispiel bei einer Beerdigung als Rahmenprogramm zelebriert wird. Das ist einfach nur absurd und abgrundtief falsch. Richtig wäre in diesem Fall, sich schweigend an den Tatort zu stellen, vielleicht noch eine Kerze für das Opfer anzuzünden oder Blumen abzulegen. Richtig wäre, den Angehörigen den Respekt entgegenzubringen, diese Tat in Ruhe verarbeiten zu können. Richtig wäre, die Polizei bei den Ermittlungen zum Tathergang zu unterstützen, anstatt sie zu zwingen, die Stadt vor chaotischen Zuständen zu schützen.
Ich kann mir auch wirklich nicht vorstellen, dass die Angehörigen des Opfers bei all ihrer berechtigten Wut und ihrem Schmerz diesen Aufmarsch zur Verarbeitung ihrer persönlichen Trauer als begrüßenswerte Reaktion empfinden. Aber um die Angehörigen geht es im Grunde sowieso nur mit kurz ausgespuckten Floskeln wie „unser tiefes Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden“. Mal ganz ehrlich: wäre ICH ein Angehöriger in diesem Fall, könnte der Mob sich dieses geheuchelte Mitgefühl ganz tief in den Arsch stecken. So tief, dass er oben wieder rauskommt.
Als Folgereaktion auf diesen Aufmarsch von Nazis (man muss es in aller Deutlichkeit so nennen) und deren Sympathisanten – und nicht etwa als Reaktion auf die Messerattacke (wichtig!) – ist die Aktion zu werten, die sich gestern abspielte: verschiedene Bands gaben in Chemnitz ein kostenloses Konzert unter dem Motto #wirsindmehr, um ein Zeichen gegen diesen Rechtstrend zu setzen, um der ganzen Welt zu zeigen, dass die braune Gesinnung hierzulande in der Minderheit ist. Etwa 65000 Menschen folgten diesem Aufruf.
Man muss von so einer Aktion natürlich nicht nur begeistert sein. Man kann es – wenn man es denn unbedingt in Zusammenhang mit dem Mord bringen möchte – als pietätlos empfinden, dass man die Aktion in Form einer „Party“ ausrichtet. Man kann auch mutmaßen, dass manche der Gäste dieser Veranstaltung nur deshalb gekommen sind, weil es umsonst ein Konzert gab, dass die sich gar nicht für Politik interessieren, sondern nur feiern wollen. Das ist okay, diese Meinung darf man haben. Allerdings muss man sich dann auch die Frage gefallen lassen, ob es angemessener wäre, es dem braunen Mob, und jenen, die sich denen angeschlossen haben, gleichzutun. Ob 65000 Menschen also losziehen sollen und Nazis jagen. Oder solche, die wie Nazis aussehen. Ich denke, die Frage lässt sich leicht beantworten. Sollte man ganz sicher nicht.
Was man aber nicht darf, und damit komme ich zum Grund dieses Beitrags: Dinge aus dem Zusammenhang reißen, als Person des öffentlichen Interesses alles in einen Topf werfen und die Menschen in ihrer guten Absicht – ES *IST* EINE GUTE ABSICHT, GEGEN RECHTS AUFZUSTEHEN! – als abscheulich hinstellen. So, wie es diese – äh – Dame hier tut:
Ich möchte diese Aussage mal analysieren. Mal ganz davon ab, dass diese Person und die Partei, für die sie eintritt, dafür bekannt sind, dass die sozialen Medien ganz bewusst dafür genutzt werden, um ordentlich zu provozieren, ist in diesem einen Satz so viel Fehlinterpretation und Tatsachenverdrehung präsent, dass ich persönlich mich nicht nur provoziert fühle, sondern mir regelrecht schlecht davon wird.
- Ihr seid nicht mehr.
Doch. Ganz eindeutig. Noch zumindest. Noch sind diejenigen in Deutschland in der Überzahl, die sich kein viertes Reich herbeisehnen. Noch sind die in der Überzahl, die nicht gewaltbereit durch die Straßen ziehen und Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft verprügeln oder schlimmeres wollen. Ihre Wähler, Frau „von“ Storch, stehen teilweise sinnbildlich für diesen verabscheuungswürdigen Menschenschlag.
2. Ihr seid Merkels Untertanen,
Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, in welcher Form eine Frau Merkel mit irgendeinem dieser Ereignisse in Chemnitz auch nur ansatzweise irgend etwas zu tun hat. Ein Zusammenhang zwischen der Flüchtlingspolitik von Frau Merkel zu exakt dieser Messerattacke zu ziehen, ist in ungefähr so logisch, als würde man den Regen in Mecklenburg-Vorpommern für die Dürre in der Sahara verantwortlich machen. Ich kann auch nicht erkennen, dass Frau Merkel zu einer dieser Aktionen aufgerufen haben soll. Weiterhin ist mir suspekt, inwiefern man behaupten kann, dass alle, die an diesem Konzert beteiligt waren, sei es als Band oder als Zuschauer, eindeutig als Merkel-Wähler identifizierbar wären. Was ich aber erkennen kann: Frau von Storch führt hier in rein provokativer Absicht einen Zusammenhang an, der nicht existiert, eben um der reinen Provokation willen.
3. ihr seid abscheulich-
Mit diesem Teilsatz distanziert sich Frau von Storch ganz bewusst deutlich verachtend von all jenen Menschen, die sich nicht dem braunen Mob anschließen, sondern sich ihm entgegenstellen. Was das für die Einstufung ihrer Person bedeutet, muss ich glaube ich gar nicht weiter hervorheben.
4. und ihr tanzt auf Gräbern.
Da ist er, der nächste bewusst falsch herbeigeführte Zusammenhang. Die Aktion hat nichts – ich wiederhole: NICHTS – mit dem Mord zu tun. Die Aktion ist eine Reaktion auf den braunen Mob, der den Mord für sich instrumentalisiert hat. Jeder Mensch mit einem gewissen Grad von Restverstand kann das erkennen. Mal davon ab, dass es ausserdem nur ein Grab zu verzeichnen gibt, wird nicht ein einziger der 65000 Besucher diesen Mord als feiernswert empfinden. Wohingegen mir etliche Beispiele einfallen, bei denen Nazis, deren Sympathisanten sowie etliche AfD-Mitglieder (kann man diese drei Positionen wirklich noch trennen?) in diversen sozialen Medien die Einschüchterung, das Anzünden von Flüchtlingsunterkunften, das Ertrinken von Menschen im Mittelmeer sowie jeden sonstigen Tod von Migranten nicht nur begrüßt, sondern tatsächlich überschwänglich gefeiert haben. Wenn jemand auf Gräbern tanzt, dann ihr.
Wo ich gerade beim Resthirn war: zum Zeitpunkt des Screenshots (heute gegen 10:30 Uhr) haben 2549 Personen (vermutlich etliche davon Bots) diesen Tweet als gut markiert. Inzwischen ist es 11:14 Uhr und es sind im Augenblick 2642. Ich mache mir ernsthafte Sorgen um die Hirntätigkeit dieser Menschen.
Beruhigend, dass in deutlich kürzerer Zeit eine direkte Antwort von @ralphruthe auf diesen Tweet stand jetzt 4483 Likes erhält.
Immerhin.