Als ich heute den Twitterclient meines Vertrauens öffnete, sprang mich direkt ein Tweet an (machen Sie sich keine Hoffnungen, ich blieb dabei unverletzt), der mich ob seines Inhaltes ziemlich beschäftigte:
Jeder aggressive Demonstrant ist Wasser auf die Mühlen der AfD. Also verbündet euch und bleibt friedlich!#koeln2204
— Sternchen (@BeiAnja) 22. April 2017
Verfasst von einer jungen Dame, der ich jetzt mal ~Menschenkenntnisanwerfgeräusch~ zu attestieren wage, dass sie, abgesehen von dem leichtsinnigen Konsum meiner Tweets, eine völlig normale Person aus völlig normalen Verhältnissen ist, die mit Gewalt und aggressivem Verhalten ungefähr so viel zu tun hat wie ich mit dem Krieg in Syrien.
Ich frage mich: wie kann es sein, dass sich das Bild heutzutage so sehr gewandelt hat, dass sie sich zu so einer Aussage genötigt fühlt? Seit wann genau muss man „völlig normalen Menschen“ (jaa, ich weiß, eigentlich ein Oxymoron) insgeheim unterstellen, gewaltbereit zu sein und bei einem bevorstehenden Auftritt von Rechtspopulisten in Köln die Gegendemonstranten zur Besinnung mahnen?
Früher war das mal anders herum und ganz einfach. Schlägertypen, das waren früher die Nazis, vornehmlich diese Deppen mit den Glatzen, den grünen Bomberjacken und den schwarzen Springerstiefeln, die irgendwas von „White Power“ faselten, sich literweise Alkohol in den Kopf schütteten und dann auf der Straße ihrem Spieltrieb in Form von Prügeleien nachgaben; oder die Hooligans, die ebenfalls eine beträchtliche Menge gehirnschädigender Flüssignahrung konsumierten und sportliche Events – vornehmlich Fußball – um eine weitere sportliche Disziplin, nämlich die der Massenschlägerei, ergänzten. Dann gab es da noch die Straßengangs, die aus einem an nichts festzumachenden Grund glaubten, irgendein Stadtbezirk sei gefälligst ihrer und müsse nach (Sie ahnen, was jetzt kommt) Konsum von Alkohol gerne mal handfest verteidigt werden. Rockerbanden, die dem gemeinsamen Hobby von sich recht schnell fortbewegenden motorisierten Zweirädern nachgingen und in der Pause zwischen den Ausfahrten gern anderen aufs Maul geben und Schutzgelder erpressten. Kriminelle, die per Se schon eine gewisse Gewaltbereitschaft signalisieren mussten, um überhaupt erst mal ernst genommen zu werden. Und Chaoten, die sich das ganze Jahr über auf der Straße penetrant bei Passanten durchschnorrten, sich kollektiv in unbewohnbaren Mietruinen verschanzten und dort um ihren Verstand vögelten, am ersten Mai aber ihren Jahresevent in Berlin zelebrierten und dort vornehmlich durch freigelassene Zerstörungswut bekannt gaben, dass sie furchtbar böse auf den Kapitalismus und deren Statussymbole sind. Auch hier spielte Alkohol eine nicht unwesentliche Rolle.
Langsam glaube ich fast, Alkohol macht böse. Aber ok.
Jedenfalls, heutzutage scheint sich das grundlegend geändert zu haben. Die Nazis, und die, die sie steuern, sind im Gesamtauftreten leiser geworden und schimpfen inzwischen gerne auf lustigen blauen Wahlplakaten mit geklauten Bildern und Sprüchen über alles, was ihnen undeutsch und damit abschaffenswert vorkommt. Die Chaoten, die früher „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“ in Leuchtbuchstaben auf der wütenden Stirn flackern hatten, besuchen heute Batikkurse, klöppeln nachmittags bunte Topflappen und werden hauptsächlich fett oder Mitglied der Grünen oder der Piratenpartei oder alles zusammen. Gut, die Kriminellen gibt es heute immer noch unverändert, aber einer muss ja die kulturellen Bräuche und Sitten aufrecht erhalten.
Neu hingegen ist jedoch, dass der ansonsten liebenswerte und nie auffällig gewordene Nachbar von gegenüber ohne optischen Wiedererkennungswert sich plötzlich entscheidet, sich als „besorgter Bürger“ Montags in Dresden einzufinden und dort nach – na, erkennen Sie das Schema? – Alkoholmissbrauch „Wir sind das Volk“, „Merkel muss weg“, „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ skandiert. Neu ist, dass der eigentlich ja schon ganz gut integrierte Ausländer oder der vom Singledasein frustrierte Bundesbürger sich von einer Organisation, die gaaaaanz weit weg lebt und gaaaaaanz seltsame Gepflogenheiten hegt, mittels eingeimpftem religiösen Fanatismus zu einer Art Terminator umkonstruieren lässt und dann mit großen Gebrauchsgegenständen in Menschenmengen rast, vor dem MacDonalds wahllos Menschen erschießt oder ein Konzert vorzeitig beendet, indem er die Zuschauer unter Zuhilfenahme von Waffengebrauch dezimiert. Neu ist, dass Menschen, die sowas verständlicherweise doof finden, aber halt – ebenfalls verständlicherweise – deswegen noch lange kein viertes Reich heraufbeschworen haben wollen, in ihrer spärlichen Freizeit ihre Stimme sowohl gegen den (Achtung, ausgelutschter Begriff) Terrorismus erheben als auch gegen eben jene, die diese Ereignisse schamlos missbrauchen, um ihrem Endsieg näher zu kommen. Neu ist, dass eben diese Menschen von suspendierten (na gut, bis auf Widerruf, der nie erfolgen wird, freigestellten) ultrapatriotischen Geschichtslehrern im Schutze eines hermetisch abgeriegelten Brauhauses in Dresden als [Zitat Anfang] „kreischende, verhetzte, von induziertem Irresein gekennzeichnete jugendliche Wirrköpfe“ [Zitat Ende] und „Wilde Horden“ bezeichnet werden. Neu ist, dass die, die einst durch Gewalttätigkeit Ihre Positionen verdeutlichten, jetzt mit dem erhobenen mahnenden Finger auf die zeigen, die ach so böse und ach so gewaltbereit sind.
Neu ist, dass inzwischen jeder irgendwie Position bezieht. Aber nicht im Dialog oder Diskurs, sondern lautstark, pöbelnd, vorwiegend im Internet und mittlerweile sehr gerne auch mit Gewalt. Neu ist, dass aus friedliebenden Menschen durch die Unzufriedenheit, die aufgeheizte allgemeine Stimmung und die gezielt geförderte Verrohung im Umgang miteinander aggressive Demonstranten werden. Und dann braucht es wohl solche Tweets wie den eingangs genannten. Und die Hoffnung, dass solche Worte wirklich zügelnd wirken können. Denn Gewalt in allen Formen und Ausrichtungen gibt es mittlerweile viel zu viel.